Donnerstag, 22. Mai 2014

Up to date

Ich mal wieder. Ausnahmsweise.

Inzwischen ist ein Wunder geschehen und ich habe es geschafft, einmal einen grösseren Haufen Fett loszuwerden. Es war wirklich nicht einfach - es ist nicht einfach - aber inzwischen konnte ich mein Gewicht von den grausigen 93 über die ekligen 85 auf immer noch gruslige 74-76 Kilogramm reduzieren. Es ist immer noch viel zu viel und ich fühle mich überhaupt nicht wohl in meiner Haut. Aber alles ist besser, als das zuvor und alles ist besser als nichts, darum akzeptiere ich einfach mal die Gegebenheit, dass ich zwar nicht so viel geschafft habe, wie ich eigentlich seit über einem Jahr schaffen wollte - aber immerhin habe ich was geschafft, und das ist im Augenblick alles, was zählt.

Leider bedeutet meine Abnahme nicht automatisch, dass ich auch meine Essstörung ein Stück weit los bin. Es ist immer noch das gleiche Spiel. Ein Hin - und Herschaukeln zwischen den Extremen, nur dass es inzwischen wieder mehr auf die Nicht-Ess-Seite gekippt ist, als auf die Fressseite.

Im Augenblick ist es aber leider wieder sehr schwer und ich dümple immer auf einem Gewicht zwischen 74 und 76 Kilogramm herum - aber das ist inzwischen immerhin schon mal im oberen Bereich des Normalgewichts, was man als Fortschritt verbuchen könnte.

In meinem Kopf herrscht immer noch Krieg, Frust, Wut, Angst, weil ich so viele Dinge tue, die ich eigentlich nicht tun möchte, weil ich Dinge in mich stopfe, von denen ich eigentlich weiss, dass sie mich unglücklich machen, und ich es trotzdem nicht verhindern kann. Wo ist mein Wille hin, wo meine eiserne Disziplin?

Ich glaube, das Nicht-Essen fällt mir so schwer, weil ich in diesem Jahr - so schrecklich es auch gewesen sein mag - gelernt habe, wie schön Essen sein kann. Wie schön es ist, wenn man mit Freunden am Tisch sitzt und anstatt nur etwas trinkt auch effektiv mitessen kann. Wie schön es ist, wenn man mal das Essen mit der Familie teilen kann, das die Mutter gekocht hat, anstatt an faden Möhren zu knabbern. Wie schön es ist, wenn man mit der kleinen Schwester spontan nach dem Kino noch ins Restaurant sitzen kann, einen Drink trinken, einen Schokokuchen essen. Und vor allem: wie schön es ist, sich nichts zu verbieten, keine Kalorien zu zählen, nichts abzuwägen, keinen exessiven Sport zu betreiben, obwohl man bereits am Ende ist, etc. Ich glaube, das ist das grösste Problem, was mich davon abhält, das Essen für längere Zeit aufzugeben. Mir ist nämlich bewusst, oder meinem Unterbewusstsein, dass Abnehmen auch wieder absolute Kontrolle bedeutet. Dass ich für lange Zeit auf Dinge verzichten muss, mich wieder abgrenze durch meine Essenswahl und die Art, wie ich esse. Dass ich mich durch Sport durchzwingen muss, obwohl ich vor lauter Schlafmangel kaum mehr stehen kann. Und ich glaube, mein Unterbewusstsein veranlasst mein Hirn, mich in solchen Momenten dann zu verführen, es durchbricht meine Mauern und schwächt mich - und ich gebe nach, falle bröckelnd zusammen und alle Vorsätze verschwimmen und ich stehe da und stopfe Dinge in mich hinein, die ich weder geniessen noch richtig schmecken kann.

Ich habe auch gelernt, wie schön es sein kann, mal unordentlich und faul zu sein, mal einfach zu geniessen und nicht tausend Dinge auf einmal und so perfekt wie möglich zu erledigen. Es ist schön, sich mal nicht mit Sport zu quälen, sich Zeit für anderes zu nehmen, spontan zu sein, Neues auszuprobieren. Aber ich weiss auch, dass das eigentlich nicht ich bin. Ich fühle mich nicht wohl im Chaos, ich mag Unordnung nicht, ich plane Dinge gerne und ich mache auch gerne Sport. Schlussendlich bedeutet das für mich also auch hier, für das alltägliche Leben, dass ich lernen muss, einen Mittelweg zu finden. Die Mitte zwischen Perfektionismus und Chaos, zwischen Hyperaktivität und Faulheit, zwischen verplant und planlos, zwischen zu diszipliniert und zu undiszipliniert.
Es ist der rote Faden, der sich durch mein Leben zieht und an dem ich arbeiten muss. Ich muss lernen, nicht alles, was ich tue, immer auf extreme Weise zu tun.

Als erstes muss ich das in Sachen Essen lernen, denn wenn ich es schaffe meine Ernährung soweit auszubalancieren, dass sie mir wieder Stabilität - nicht in Form eines Korsetts, wie die Magersucht es getan hat - gibt und ich eine gewisse Kontinuität hineinbringe, dann werde ich automatisch in anderen Bereichen ausgeglichener, was ich aus Erfahrungen während meiner Magersuchtzeit weiss. Erst dann, wenn dieser so alltägliche Ablauf des Essens sich auf einem guten und regelmässigen Level gefestig hat und mich nicht im Minutentakt ausser Balance bringt, kann ich mich den anderen Dingen zuwenden und die ins Gleichgewicht bringen.

Aber es ist verzwickt und bringt mich täglich beinahe um den Verstand. Ich weiss genau, dass mich das Essen unglücklich macht, dass es mir mehr schadet als nützt. Aber in diesen Situationen habe ich das Gefühl wahnsinnig zu werden, kann an nichts anderes mehr denken als ein bestimmtes Nahrungsmittel, das ich mir früher immer verboten habe. Und dann, meist noch bevor ich es dann esse, packt mich das schlechte Gewissen. Ich debattiere ewig mit mir, bis ich schliesslich nicht mehr kann und einfach esse. Und danach fühle ich mich noch schlimmer als zuvor. Und ich verstehe die Welt nicht mehr, weil ich mir doch schon abertausende Mal gesagt habe, dass Essen mich nicht glücklich machen kann, sondern eher das Gegenteil.

Jetzt verstehe ich sehr gut, warum es so viel dicke Menschen gibt in unserer Gesellschaft. Essen beruhigt, es lässt uns Gefühle vergessen, es bringt Menschen zusammen und man hat das Gefühl dazuzugehören. Es lässt Schmerz für eine bestimmte Zeit verschwinden, zumindest fühlt es sich so an, es gibt uns Energie, die uns fehlt, weil wir ständig unter Druck stehen. Es gibt uns das Gefühl, dass wir besser mit dem Chaos in uns drinnen umgehen können. Es lenkt ab und es lässt uns unsere Langeweile, Angst und unser Herumirren vergessen.

Früher habe ich geurteilt über dicke Menschen. Ich habe mich gefragt, wie man das so weit kommen lassen kann, weil ich mir das als Magersüchtige überhaupt nicht vorstellen konnte, dass man so die Kontrolle über sich selbst verlieren kann und es überhaupt so weit kommen lassen kann, dass man zu viel wiegt. Und jetzt stehe ich da und bin selber dick und fühle mich zu 90% verzweifelt und machtlos dagegen, weil es schlussendlich genau so eine Essstörung ist, mit der ich kämpfe, wie die Magersucht, mit der ich gekämpft hatte. Es hat sich nur ins andere Extrem verkehrt.

Ich hoffe sehr, dass ich es schlussendlich doch herausschaffe. Dass ich eine goldene Mitte finde und nicht mehr in Extremen leben muss. Dass ich aufhören kann, alle meine Gefühle über das Essen steuern zu wollen, denn eigentlich weiss ich ganz genau, welch Illusion ich hier anheim falle.

Ich gebe nicht auf. Auch wenn ich mich darauf einstellen muss, dass es länger dauert, als ich mir wünschen würde.