Umgang mit Eßstörungen

Wie gehe ich vor, wenn ich denke, dass jemand in die Magersucht gerutscht ist?

Für mich als "Opfer der Magersucht", also als eine, die weiss, wovon sie spricht, ist es etwas einfacher jemanden auf eine mögliche Magersucht anzusprechen. Was aber tun, wenn man selbst kaum Ahnung davon hat und trotzdem helfen möchte?

Als erstes würde ich Fachliteratur - und zwar gute Fachliteratur, nicht einfach Wikipedia - zu Hilfe ziehen. Dort gibt es oft auch Tipps, wie man als Angehöriger oder Freund jemand auf eine mögliche Eßstörung ansprechen könnte. Zudem ist es, meiner Meinung nach, extrem wichtig zu wissen, wovon man spricht, d.h sich mit dem Thema Magersucht auseinandergesetzt zu haben. Wie sonst will man dem Gegenüber begreiflich machen, dass ein Problem vorliegen könnte.

Zweitens würde ich die betreffende Person in Situationen bringen, in denen man sehen kann, wie ihr Verhältnis zum Essen ist. Meidet sie es in der Kantine zu essen, hat sie immer Ausreden parat ("Ich habe schon gegessen", "Mir ist ein bisschen übel", "Ich habe momentan keinen Hunger", "Irgendwas hat mir auf den Magen geschlagen", und so weiter), treibt die Person mehr Sport oder ist sie ständig unruhig, wie sieht ihr allgemeiner Zustand aus, kann eine andere Erkrankung ausgeschlossen werden (denn viele Leute, die nicht magersüchtig sind, reagieren genauso empört, wenn sie darauf angesprochen werden, wie jemand, der magersüchtig ist, es sich aber noch nicht eingestehen kann). Wenn man also ziemlich sicher ist, dass Magersucht vorliegt, sollte man sich überlegen, wie man weiter vorgehen soll.

Der dritte Schritt ist abhängig von der Situation, den eigenen bevorzugten Kommunikationsmittel und dem Zustand der betroffenen Person. In gewissen Situationen ist es besser sich mit der Person zusammen zu setzen und sie vorsichtig darauf anzusprechen. Meist führt dies zu nichts - hat man das Gefühl - weil die Person leugnet ein Problem zu haben. Dennoch sollte man nicht aufgeben und vor rüder Abneigung nicht zurückschrecken. Am einfachsten ist es, wenn man weiss, wovon man redet und der Person von eigenen Erfahrungen erzählen kann. Ich denke, dass es dann leichter ist, sich etwas einzugestehen - vor allem, weil man hört, dass es Menschen gibt, die einem wirklich verstehen, weil sie genau das Gleiche auch erlebt haben. Aber auch wenn man selbst nicht betroffen ist, denke ich, dass man eine Chance hat irgendwann etwas in der Person zu treffen, wodurch sie ihre Situation begreift. Das Eingeständnis ein Problem zu haben ist meiner Meinung nach einer der grössten Schritte in eine Besserung oder gar eine Heilung.
Manchmal kann es die Situation auch erfordern, dass die Person per Brief angesprochen wird. Ich persönlich denke, dass jemand, der einen Brief liest weniger Abwehrhaltung aufweist, weil er seine Ruhe hat und sich alles ohne Druck durch den Kopf gehen lassen kann. Zudem wirken geschriebene Worte oft stärker als gesprochene. Wie genau sie die Person jedoch ansprechen, spielt keine Rolle, solange sie sie nicht angreifen, beleidigen, laut werden oder Schuld zuweisen. Bleiben sie sachlich, vielleicht auch etwas emotional, aber ruhig und gefasst, lassen sie auch die Person zu Wort kommen, falls sie etwas sagen möchte. Ich weiss aus Erfahrung, dass es extrem viel Fingerspitzengefühl erfordert, jemanden auf eine Magersucht anzusprechen. Aber wenn sie genug Einfühlungsvermögen und vor allem das Vertrauen dieses Menschen haben, wird es ihnen früher oder später auch gelingen. Leider gibt es aber auch Fälle, in denen man ohne Krankheitseinsicht zu härteren Methoden, d.h zur Zwangseinlieferung greifen muss. Sie dürfen nicht vergessen: die Magersucht hat eine Sterblichkeitsrate von 15-20%. Und je früher sie jemanden darauf ansprechen, desto besser sind die Chancen, dass derjenige einigermassen unbeschadet wieder daraus herauskommt. Jedenfalls so, dass keine akute Gefahr mehr besteht.

Wie gehe ich vor, wenn ich denke, dass jemand meine Hilfe braucht?

Meistens schreibe ich einen Brief oder spreche die Person in einer ruhigen Minute an. Wie auch beim Thema Magersucht, versuche ich der Person zu vermitteln, dass ich sie verstehe, weil ich vielleicht Gleiches oder Ähnliches selbst durchmache oder durchgemacht habe. Und irgendwie geht es bei mir immer wie von selbst. Meist kommen die Menschen zu mir, wenn sie Probleme haben. Egal wer, egal wie lange ich die Person schon kenne, ein Tag, ein Monat, ein Jahr. Sie schauen mich an und fangen an über ihre Probleme zu reden. Ich weiss nicht wieso, vielleicht habe ich ein vertrauenswürdiges Gesicht oder sie spüren, dass ich mich in sie einfühlen kann - aber sie tun es. Und obwohl ich mich sehr geehrt fühle, ist es manchmal auch echt schwer zu ertragen.

Wie gehe ich vor, wenn ich über ein heikles Thema sprechen muss?

Ich wähle meine Worte ganz bewusst und versuche möglichst viel Wissen und Erfahrung einfliessen zu lassen. Ebenso achte ich ganz genau auf die Reaktion meines Gegenübers und auf die "Stimmungswellen" die von ihm ausgesandet werden. Und wenn ich merke, dass das Gespräch in die falsche Richtung läuft, breche ich ab und versuche es beim nächsten Mal auf eine andere Weise zu machen. Ich weiss, die Antwort ist nicht befriedigend. Ich denke, jeder Mensch hat seine eigene Art mit heiklen Themen umzugehen.

Was tue ich, wenn mich jemand auf meine Eßstörung anspricht?

Ich bin furchtbar ehrlich mit den Menschen was meine Eßstörung angeht. Okay, über das Fressen rede ich nur mit ein oder zwei Menschen, eine davon hat das gleiche Problem. Aber vor allem wenn es um die Magersucht geht, bin ich sehr offen, da ich den Standpunkt vertrete, dass ich durch diese Offenheit vielleicht irgendjemanden davor bewahren kann, dass er ebenfalls in diese Sucht rutscht. Wenn ich damit auch nur einem einzigen Menschen helfen kann, dann hat sich diese Offenheit und die Verletzlichkeit, die damit einhergeht, bereits gelohnt.
Ich sage also die Wahrheit, schonungslos, aber auch nur, wenn ich merke, dass sich jemand wirklich dafür interessiert. Ansonsten versuche ich meine Probleme so gut es geht vor der Aussenwelt zu verbergen. Ich trage ein Kostüm, das ganz anders ist, als ich eigentlich wirklich bin. Das ist effektiv, aber auch extrem anstrengend. Und von gewissen Menschen wird es gnadenlos durchschaut.

Was tue ich, wenn jemand etwas sagt, das mich verletzt?

Wenn ich ehrlich bin: Ich verspüre einen tiefen Stich im Herzen, bekomme keine Luft mehr und ziehe mich zurück, um über diese Worte nachzudenken. Oft denke ich noch Wochen danach über die ganze Sache nach. Ich kann verletzende Worte nicht vergessen, weil sie mich in meiner Meinung von mir selbst nur bestätigen: Ich bin anders, ich bin hässlich, ich bin unfähig, ich bin eine Versagerin, ich bin nicht gut genug, ich bin unwürdig zu leben, ich mache alles falsch, ich bin zu schwach, zu sensibel, zu gutgläubig, zu hilfsbereit, zu naiv, zu ....

Was tue ich, wenn ich jemandem nicht helfen kann?

Ich versuche es immer weiter. Obwohl ich weiss, dass es eigentlich hoffnungslos ist. Aber manchmal gebe ich auch einfach auf und ziehe mich zurück, weil es mir die letzte Kraft raubt. Irgendwann werde ich einsehen, dass es Menschen gibt, die sich einfach nicht helfen lassen wollen.

Wie geht man in der Familie mit der Magersucht um?

Schwierige Frage. Es gibt Zeiten, in denen es nur um die Magersucht geht, vor allem dann, wenn sie gerade recht akut ist. Sobald man aber das Gefühl bekommt, das es sich etwas gebessert hat ("Schau, sie isst wieder, jetzt ist alles wieder gut"), geht man dazu über es zu verdrängen. Jedenfalls in meiner Familie. Aber hin und wieder kommt irgendwas wieder hoch, wie aus einem Vulkan und ich begreife, dass meine Eßstörung immer noch ein riesiges Thema in der Familie ist.

Habt ihr weitere Fragen, die ihr gerne beantwortet hättet?

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