Freitag, 5. April 2013

Hat jemand meinen Kopf gefunden?


Ich habe keine Ahnung, wo er abgeblieben ist. Vermutlich hat sich Kröte wieder einmal mit ihm irgendwo verkrochen - und wenn ich mich auf die Suche nach ihm begebe, stellt sie mir heimlich das Bein, sobald ich wie eine Blinde an ihnen vorbeitrample. Ja, trample. Anders kann man das, was ich inzwischen mache, nicht bezeichnen. Ein Wunder, dass ich noch nicht rolle. Aber ich bin sicher, dass ich das werde, wenn es nicht endlich aufhört. Ich habe gezählt. Es sind über 70 Tage während denen ich mehr oder weniger ununterbrochen FRESSE. 

Wie ich dahin gekommen bin? Keine Ahnung. Es hat sich angeschlichen, wie ein Feind, der den Gegner hinterrücks überrascht. Plötzlich war es da, das Fressen. Es hat mich als Geisel genommen, mich an irgendeinen dämlichen Baum gekettet - und wenn ich mich wehre, mich winde und entfliehen will, dann fallen mir bloss Nüsse auf den Kopf und nach einer kurzen Nacht habe ich alle Vorhaben der Flucht bereits wieder vergessen. Sehr effektiv, diese Amnesie, die mir Kröte jeden Tag beschert. Wie lange schwöre ich ihr schon Rache? Seit es angefangen hat. Die Frequenz hat sich exponentionell erhöht. Kein Wunder. So wie ich jetzt ausschaue, kann es gar kein anderes Thema mehr geben als Essen - oder lieber Nicht-Essen. Nur, wo ist meine Disziplin abgeblieben? Wie ist es gekommen, dass ich die Kontrolle abgegeben habe, die ich über drei Jahre so perfekt aufrechterhalten habe. Ich dachte, dass mir das nie passiert, dieser Kontrollveerlust von dem andere Magersüchtige mir erzählt haben. Ekelerregend fand ich die Vorstellung, abstossend der Gedanke, dass jemand so viel essen könnte, um so fett zu werden. Ich dachte, ich sei auf der sicheren Seite. Falsch gedacht.

Und nun? Ich bin keinen Dreck besser, nein, bin sogar schlimmer. Nie zuvor war ich fetter (und damit meine ich wirklich Fettmasse, denn man sieht an allen Stellen meines Körpers diese kleine Dellen, die so typisch sind für Fettgewebe. Und wenn ich Sport mache, dass fühle ich mich wie ein zappelnder fetter Thunfisch auf dem Land. Und das ausgerechnet ich. Ich, die mehr als drei Jahre lang an jedem einzelnen Tag Sport gemacht hat. Oh mein Gott, was habe ich getan?!), ja, eben, fetter, dicker, fauler, deprimierter und erschöpfter als jetzt. 72 Kilo. 1,75 cm. Unglaublich. Ein BMI von über 23. Vielleicht sogar 24. Ich habe mich noch nicht getraut den neuen auszurechnen. Vor einigen Wochen, genauer gesagt am 24. Dezember, also ungefähr vor drei Monaten war ich noch untergewichtig. Meine geliebten 48 Kilo. 1,75 cm. Ein BMI von 15,6. Nicht richtig dünn, nein, damals habe ich mich sogar fett gefühlt. Jetzt kann ich darüber nur noch lachen. Ich wäre schon erleichtert, wenn sich mein Gewicht wieder unter 60, besser gesagt unter allem, was jetzt ist, befinden würde. Aber egal wie sehr ich das auch will - ich kriege es nicht hin. 

Ich mache Pläne, ich esse den ganzen Tag nichts, ich versuche es etwas gemässigter, ich versuche zum Sport zurückzukommen. Aber ich komme gegen die Fresserei nicht an. Irgendwas in meinem Kopf schafft es jeden Tag von Neuem irgendeinen verdammten Schalter umzulegen. Dann denke ich: „Komm schon, heute ist WIRKLICH das letzte Mal. Schau, diese leckeren Dinge. Jetzt machst du dir damit ein schönes Abschiedsessen und ab morgen hälst du dich an deiner Regeln.“
Fuck off und halt die Schnauze, was du sagst, stimmt einfach nicht. Ich will das nicht mehr, ich kann das nicht mehr. Alles, was ich mir wünsche ist, a) dass die Fresserei nie angefangen hätte und b) dass ich ab sofort wieder die Perfektionistin, Disziplinistin und Magersüchtige bin, die ich war und die ich immer noch sein will. Nicht weil ich damals wirklich glücklicher gewesen wäre (doch, wenn ich so darüber nachdenke, dann gab es Zeiten, in denen ich magersüchtig war, trotzdem jeden Tag genug und kontrolliert gegessen habe und auch noch einigermassen glücklich gewesen bin) - aber wenigstens hasste ich mich ein kleines bisschen weniger (natürlich konnte ich das erst wissen, seit ich weiss, wie es sich anfühlt über 70 Kilogramm zu wiegen). Die Zahl an sich ist mir eigentlich egal. Aber nicht das Körpergefühl. Es zerstört mich bei jeder Bewegung, die ich mache. Da sind Speckrollen, die kneifen, Oberschenkel, die aneinander reiben, Fett, das von den Kleidern eingequetscht wird, Kleider, die vorne und hinten nicht mehr passen, Fett am Arsch, das schmerzt, wenn man drauf sitzt. Alles ist zur Qual geworden, weil es mir gnadenlos vor Augen führt, wie sehr ich die Kontrolle über mich verloren habe. Darum tue ich auch nichts anderes mehr als herumzuliegen und zu warten, dass die Tage vorbeigehen - und die Depression vielleicht auch irgendwann verreist. Ich liege da, haue mir auf mein Fett, sehe zu, wie sich schwabbelnde Wellen über den ganzen Körper ziehen und würde mir am liebsten alles abschneiden, aufschneiden, wegmachen. Ich wünschte, ich könnte zaubern.

Seit wann bin ich so eine Versagerin? Ja, klar, für eine Versagerin habe ich mich schon gehalten, als ich gemerkt habe, dass ich irgendwie anders bin als die anderen im Kindergarten. Aber jetzt, wow, ich habe wirklich meinen Tiefpunkt erreicht. Ich habe mich auf zwei Fähigkeiten reduziert: Fressen und Herumliegen (= Verdrängung aller Gefühle, Probleme und Gedanken, vor allem, wenn dann noch die Glotze läuft). Ich kann es echt nicht fassen, wie ich von dem Höhepunkt, damals als ich gedacht habe, dass ich die Magersucht vielleicht endlich loslassen könnte, an DIESEN PUNKT gelang bin. Respektive an diesen Fettknollen. Nilpferdtreffpunkt. Mitgliederkarte für Fettleibige.

Wo bleibt das Leben, dass ich zwanzig Jahre lang geführt habe? Perfektionistisch, diszipliniert, herausforderungsreich, anspruchsvoll und tiefgründig.
Ich bin nur noch eine Hülle, die alles, was in ihr und um sie herum geschieht, auszublenden versucht.

Ich meine, verdammt, so kann mein Leben doch nicht weitergehen. So, shut up, Kröte. I don't want you like that anymore...please, go back to starvation and restriction. Damit konnte ich wenigstens umgehen. 

3 Kommentare:

  1. Deine Worte berühren mich total, du schreibst einfach unglaublich ehrlich! Ich finde mich in vielem wieder, was du schreibst und wünsche dir das Leben, was dich glücklich macht. Alles Gute, du packst das.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Vielen lieben Dank. Ich hoffe sehr, dass ich es packe, aber im Moment könnte ich mich ehrlich eigenhändig erwürgen. Aber das könnte ich schon seit einem Jahr und getan habe ich es noch nicht. Und auch nicht mehr vor. Schliesslich habe ich eine Verantwortung meinem Pferd gegenüber. Ich werde weiterhin mein Bestes geben und ich hoffe sehr, dass du es auch packen wirst!

      Löschen
  2. Hey, genauso wie dir geht es mir gerade auch...Das tut irgendwie so gut zu wissen, dass man nicht alleine ist... Sogar deine Maße stimmen ungefähr mit meinen überein ^^
    Aber ich wünsche dir noch ganz viel Erfolg, irgendwann wird sich bei uns der Schalter umlegen ♡

    AntwortenLöschen